Der Spurendeuter

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Der Spurendeuter

MärchenWirkstatt
Veröffentlicht von Kolja in Märchen · 2 Februar 2017
Märchen aus Kasachstan
In der weiten Steppe hütete ein Mann einmal eine Herde Kamele. Eines Morgens fehlte ihm ein Kamel. Es war eines der Lastkamele, die bald allerlei Güter befördern sollten. War es entlaufen, oder hatte man es ihm gestohlen und heimlich entführt? Keine dieser Fragen konnte beantwortet werden. Er bestieg ein Reitkamel und begann in der Umgebung zu suchen. Da holte er in der Steppe einen Mann ein, der auf einem Hengst saß. „Hast du ein Kamel gesehen?" rief der Kamelreiter. „Mir ist ein Kamel entlaufen!" „Wo dein Kamel jetzt ist, kann ich dir nicht sagen, aber gestern sah ich seine Spuren", sagte der Mann auf dem Hengst. „Es kann nicht weit gelaufen sein, denn es ist nicht mehr ganz jung", meinte der Kamelhirte. „Ist dein Kamel auf dem linken Auge blind, und fehlen ihm die Vorderzähne?" ,,Ja, ja, genau das ist mein Kamel! Wo hast du es denn gesehen?" „Gesehen habe ich das Kamel nicht, nur seine Spuren, mein Freund!" beschwichtigte ihn der Mann auf dem Hengst, denn der Kamelhirte hatte sich freudig in seinem Sattel erhoben. „Wenn du weißt, dass ihm die Vorderzähne fehlen, und wenn du gar genau weißt, dass es auf dem linken Auge blind ist, dann hast du das Kamel gestohlen und hast es wohl schon verkauft!" „Ich bin doch kein Dieb!" verteidigte sich der Mann auf dem Hengst. „Das werden wir vor Gericht klären", meinte der Kamelhirte. „Gut", sagte der Mann auf dem Hengst und ritt bereitwillig mit zum Richter. Dort brachte der Kamelhirte seine Klage vor. Der Richter fragte den Mann, der von seinem Hengst gestiegen war, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen habe. Der Mann antwortete zum Erstaunen beider: „Auf der einen Seite trug das Kamel einen Sack mit Weizen und auf der anderen ein Fässchen mit Honig!" „Ja, ja, genau, das ist mein Kamel, und er hat es gestohlen!" Der Richter glaubte dies selbst auch schon und fragte nun bohrend den Angeklagten: „Und woher kannst du das alles wissen?" Der Mann mit dem Hengst lachte und sagte gelassen: „Man braucht ja nur die Spuren zu deuten. Wenn bei einer Kamelspur nur rechts am Wege das Gras gefressen ist, dann muss dieses Kamel auf dem linken Auge blind sein. Und wenn in der Mitte immer Büschel mit schmackhaften Disteln stehen bleiben, dann kann es keine Vorderzähne mehr haben!" Da beugte sich der Richter vor und fragte: „Und was ist mit dem Honig und dem Weizen?". „Das ist sehr einfach", sagte der Mann mit dem Hengst, „wenn auf der einen Seite des Weges die Fliegen auf den Honigtropfen sitzen und auf der anderen Seite sich die Spatzen um die Weizenkörner streiten, dann weiß man, dass das Kamel Honig und Weizen geladen hatte!" Der Richter war verblüfft und rief aus: „Das ist richtig!" und sprach den Angeklagten frei. Der Kamelhirte entschuldigte sich bei dem Mann mit dem Hengst und ritt kleinlaut zu seiner Herde zurück.
 
Josef Guter (Hg.), Die schönsten Märchen der Welt, München: Cormoran 1999
 


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